Die Poesie rastloser Geister | Zum zwanzigsten Todestag von Rio Reiser
Am Samstag jährt sich der Todestag von Rio Reiser; seit 20 Jahren weilt der selbst ernannte König von Deutschland nicht mehr unter uns. Dennoch ist der musikalische Einfluss des Frontmanns der Ton Steine Scherben heute größer, als je zuvor. Bands wie AnnenMayKantereit und Milliarden kupfern mit ihrem rumplig-rotzigen Indie-Folk Rios Art beinahe schamlos ab. Doch es passierte eine ganze Menge zwischen Rios Legendenstatus in der linksradikalen Szene und seinem schnellen Aufstieg zur Stilikone für poetischen, deutschen Pop. Mit dem Werdegang eines großen, aber rastlosen Geists hat sich FluxFM-Redakteur Fabian Broicher auseinandergesetzt.
Den Beitrag zu Rio Reiser gibt es hier in voller Länge zu hören:
Zwar wird er 1950 in Berlin geboren, doch da sein Vater aufgrund seines Jobs bei der Siemens AG viel umziehen muss, wächst Ralph Möbius – damals noch nicht unter seinem Künstlernamen bekannt – in der ganzen Republik auf. Von West-Berlin geht’s für die mittelgroße Familie, die neben Ralph noch seine Brüder Peter und Gert umfasst, nach Oberbayern, Nürnberg oder Mannheim. Wirklich zuhause fühlt sich Ralph nirgendwo und es soll auch noch eine Weile dauern, bis er sein wirkliches Zuhause finden wird.
Den Namen Rio Reiser gibt er sich selbst, weil ihn sein bürgerlicher Nachname zu sehr an kitschige Arztromane erinnert. Mit Rio redet ihn sowieso bereits jeder an, für Reiser holt er sich Inspiration bei der Romanfigur Anton Reiser von Karl Philipp Moritz. Als Autodidakt schafft er sich Cello, Gitarre und Klavier drauf, bricht die Schule ab und macht zunächst Musik fürs Theater, wo er auch als Schauspieler auf der Bühne steht. Durch einen Freund gerät er schließlich an den Sängerposten bei Ton Steine Scherben. Zunächst covert man, wie jede zweite Band zu dieser Zeit, Beat-Songs, mit dem Umzug nach Berlin Anfang der Siebziger beginnt man auch eigene Songs zu schreiben.
In West-Berlin fallen Ton Steine Scherben schnell durch ihre politisch locker-liberale Art auf. Durch Texte, in denen sie den Hausbesetzern eine Stimme geben (Rauch-Haus-Song) und alles Elitäre angreifen (Macht kaputt, was euch kaputt macht und Keine Macht für niemand), sprechen sie den jungen Linksradikalen aus der Seele. Doch wirklich wohl fühlt Rio sich damit nicht. Die Scherben werden vor allem für so genannte Solidaritätskonzerte gebucht, bei denen sie kaum bis gar kein Geld verdienen.
Obwohl die Band, auf Rio Reisers Drängen hin, bald nach Fresenhagen ins tiefste Norddeutschland zieht, um ihren Ruf als Jukebox der Linken loszuwerden, hilft es wenig. Als die Band sich Mitte der Achtziger auflöst, haben sich stolze 500.000 Mark Schulden angesammelt. Fast verzweifelt wendet sich Rio anschließend an Annette Humpe, die als Produzentin bereits DÖF zu einem Hit verhalf, um sich Geld für Studiokosten zu leihen. Sie lehnt ab, stellt jedoch ihre Dienste zur Verfügung. Und plötzlich träumt Rio auf dem Höhepunkt der Neuen Deutschen Welle an der Spitze der Hitparade davon, was er machen würde, wäre er der erste schwule König von Deutschland.
Vielen Fans von Ton Steine Scherben passt dieser Bruch überhaupt nicht, woraufhin sie Rio Reiser den Ausverkauf vorwerfen. Dabei hatte er schon immer mit gefühlvoller Poesie experimentiert, doch erst auf seinem ersten Soloalbum kommt sie zur vollen Entfaltung. Mit umwerfenden Liebesliedern wie Junimond und Für immer und Dich beweist Rio, dass er mit der deutschen Sprache kreativ, ungewohnt und überaus clever zu arbeiten vermag.
Mit der Kritik geht Rio Reiser entspannt um, für ihn gibt es schlimmeres, als eine Kunsthure zu sein. Und politisch äußert er sich immer noch, nur sind die dreisten Parolen einer bissigen Ironie gewichen, mit der Reiser Politiker mit Menschenfressern vergleicht und über Coca Cola herzieht.
Mit 46 Jahren stirbt Rio Reiser viel zu früh an Herz-Kreislaufversagen. Er ist an HIV erkrankt und lebt kein wirklich lammfrommes Leben – Drogen werden als Todesursache nicht ausgeschlossen. Und obwohl er nun bereits so lange nicht mehr unter uns weilt, ist Rio in der deutschen Musiklandschaft unerreicht und unvergleichlich. Seine rastlose Art hat er nie vollständig ablegen können, obwohl er im ländlichen Fresenhagen in Norddeutschland zuletzt so etwas wie eine Heimat gefunden hat.
Fraglos hat die deutsche Musiklandschaft mit Rio Reiser einen ganz, ganz Großen verloren. Einerseits mag man sich kaum vorstellen, mit was der sympathische Querkopf und Andersdenker unser Leben noch hätte bereichern können, andererseits können wir mehr als dankbar sein. Dankbar für seine Musik, die wohl noch lange, lange weiterleben wird.
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