Jesus Is Kanye? | FluxFM Albumkritik
Kanye West gibt nicht viele Interviews, noch seltener lässt er Einblicke in sein privates Leben zu. In den vergangenen sechs Monaten hat er es zwei Mal getan: einmal mit David Letterman, Anfang März, als er zum Rundumschlag gegen die Medien ausholt und substanzlose „Make America Great Again“ Statements vom Stapel lässt. Vor dem Release seines neuen Albums Jesus Is King besucht ihn dann Radiomoderator Zane Lowe in Wyoming. Und dort, so hat man das Gefühl, sitzt plötzlich ein geläuterter Mann, noch immer größenwahnsinnig und entrückt, doch nicht unsympathisch. Was war passiert? Jesus war passiert!
Genie und Wahnsinn liegen eng beisammen, sagt man. Kanye West ist ein neonleuchtendes Beispiel dafür. Mit 808s & Heartbreak spielt er 2008 das R&B Game durch. Sein Meisterstück bleibt das opulente „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“: Auf Basis dieser musikalischen Formel kommen Acts wie Drake oder Nicki Minaj in den Rap-Himmel, erreichen bis dato nie gekannte Streamingbestmarken. Kanye, das Scheidungskind aus Boston, avanciert zu dem Künstler, der Hip-Hop bis zum heutigen Tage auf der Chartlandkarte festtackert.
Aber zurück zu Jesus. Die Verbindung von Religion und Musik im US-Rap ist nichts Neues. Auch nicht für Kanye West. Sein 2013er Album Yeezus ist eine Ansammlung afroamerikanischer Kampflieder über systematischen Rassismus in den USA: klagend, anklagend, wegweisend. Voll von rückfälligen und geläuterten Sündern. Es sind Leute wie Kendrick Lamar oder die Knowles Schwester, die das alles etliche Jahre später grammytauglich ausformulieren.
Das neue Album Jesus is King trägt diesen kreativ-schöpferischen Geist leider nicht mehr in sich. Eher wirken die knappen 3-Minüter wie Gospelskizzen oder unfertige Bibelgeschichten – halbgar und schemenhaft. Mit sakralen Anspielungen hat sich der einstige Poprevolutionär bereits in älteren Songs dumm und dämlich reformiert. Diese Stücke hier wirken daher mehr wie ein Faltblatt zum allwöchentlichen Sunday Service: Alle haben sich lieb. Alle haben Gott lieb, den Schöpfer, den Heilsbringer und ach ja, Gott ist groß, hab ich das schon erwähnt? Gott ist also zum letzten gültigen Maßstab eines Größenwahnsinnigen geworden. Im Pop verheißt das selten etwas Gutes. Bei Kanye heißt es zunächst mal Jesus Is King. Wen er damit meint, tatsächlich Gott oder doch eher sich selbst, das bleibt offen. Klar ist aber: Den Ton in der Musik, den geben heute andere an.
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