Internationaler Literaturpreis 2016 | Lesen und lesen lassen Spezial
20. Juni bis 26. Juni 2016
Erzählen und Übersetzen in einer beschleunigten literarischen Gegenwart, ungefestigt zwischen Sprachen, Kulturen und Systemen leben, Sprache auf faszinierende Weise dynamisieren und neu erfinden: Zum 8. Internationalen Literaturpreis 2016 im Haus der Kulturen der Welt widmen wir unsere Rubrik Lesen und lesen lassen den Autoren und ihren Werken. Wir stellen euch in dieser Woche die GewinnerInnen und vier weitere KandidatInnen vor, die es in die Vorauswahl der Shortlist 2016 geschafft haben.
Deutschsprachige Verlage haben in diesem Jahr insgesamt 151 Titel, übersetzt aus 31 Sprachen, eingereicht. 35.000 Euro gibt’s für den Gewinner, davon gehen 20.000 Euro an den Autor und 15.000 Euro an den Übersetzer – diesmal die indisch-französische Autorin Shumona Sinha und ihre Übersetzerin Lena Müller für den aus dem französischen übertragenen Titel Erschlagt die Armen!.
Die Verleihung des Preises für übersetzte Gegenwartsliteraturen findet am Samstag, den 25. Juni, von 14 bis 20:30 Uhr im Haus der Kulturen der Welt statt. Zur Ausweitung der Lesezone kommen die nominierten Autoren und Übersetzer, die Juroren und Gäste dort zusammen. In Lesungen, Materialgesprächen, Befragungen und Roundtables werden die multiplen Praktiken des Schreibens, Übersetzens und Lesens und deren Folgen auf mehren Bühnen verhandelt – also was dieses „Literatur machen“ eigentlich ist.
Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha
„Lügenfabrik“ – so nennt die Protagonistin die Asylbehörde, in der sie arbeitet. Die junge Frau ist selbst vor einigen Jahren als Einwanderin nach Frankreich gekommen. Hier wiederholt sich in den Geschichten der Asylbewerber genau jenes Elend, dem sie entkommen wollte. Vor allem wiederholt sich die Übermacht der Männer, von der sie sich freimachen wollte und dann schlägt sie einem Migranten eine Weinflasche auf den Kopf – in Shumona Sinhas Roman Erschlagt die Armen!
Fazit von Jörg Petzold:
„Das ist das Buch der Stunde in der Flüchtlingsdiskussion! Es ist ein Geschenk, denn es nimmt uns mit in die schizophrene Welt der Asylverfahren. Ungeschminkt und keineswegs als trockener Bericht, sondern mit einer aufwühlenden, bildreichen Sprache. Wirklich beeindruckend und sehr berührend. Es fängt die ganze Ambivalenz ein. Die Autorin und ihre Übersetzerin sind zu Recht die Preisträgerinnen des diesjährigen Internationalen Literaturpreises!“
Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha ist erschienen bei Edition Nautlitus.
Dunkel, fast Nacht von Joanna Bator
Die weitgereiste Journalistin Alicja Tabor kehrt in ihre schlesischen Heimatstadt zurück. Die Stadt ist in Aufruhr. Drei Kinder sind verschwunden, ein Netz aus Lügen, Verleumdung und Hetze breitet sich in der Stadt aus. Die erfolglosen Ermittlungen schüren die Wut der Bürger, befeuern die Gerüchte, Verdächtigungen und Schuldzuweisungen. Alicja begibt sich auf Spurensuche und gerät dabei auf Fährten der deutschen und der eigenen Geschichte…
Fazit von Jörg Petzold:
„Mit diesem Buch beweist die Autorin, über welch wilde Phantasie sie verfügt! In Form eines absurden Realismus beschreibt sie den polnischen Alltag und stößt dort natürlich auch auf unaufgearbeitete Teile der Geschichte Polens. Das passiert auf so vielen Ebenen – sowohl sprachlichen als auch Realitätsebenen im Buch (was sehr kunstvoll verwoben ist) – und ist zudem teilweise wie ein Krimi geschrieben, dass einen das ordentlich bei Laune hält!“
Dunkel, fast Nacht von Joanna Bator in der Übersetzung von Lisa Palmes ist erschienen bei Suhrkamp.
Ein Sturm wehte vom Paradiese her von Johannes Anyuru
Ein junger Mann wird in einem unterirdischen Raum irgendwo in Ostafrika vernommen. Noch vor kurzem sollte er Kampfpilot in der ugandischen Luftwaffe werden. Doch dann kommt es in Uganda zum Staatstreich. Idi Amin ergreift die Macht. Sein Regime wird zu einem der blutigsten des afrikanischen Kontinents werden. Der junge Mann beschließt, nicht zurück zu kehren ins mörderische Uganda.
Fazit von Jörg Petzold:
„Dies ist eines der wenigen Bücher afrikanischer Autor/-innen, das nicht aus dem Englischen oder Französischen übersetzt wurden, sondern aus dem Schwedischen. Deswegen hat es auch weniger Aufmerksamkeit bekommen als seine französischen und englischen Brüder und Schwestern. Es geht um das große Thema der Heimatlosigkeit – und das ist sehr bewegend, sehr poetisch, aber auch brutal und verstörend. Es hilft nachzuvollziehen, was manche Menschen, vor allem Flüchtlinge, wirklich erlebt und durchgemacht haben.“
Der Perser von Alexander Ilitschewski
Ilja, ein aserbaidschanischer Geologe im Ölgeschäft, kehrt nach einer gescheiterten Beziehung aus den USA zurück um seinen Jugendfreund Haşem aufzuspüren. Die beiden Freunde könnten sich unterschiedlicher nicht entwickelt haben. Haşems Lebensweise und Aura ziehen Ilja in Bann und stellen seine eigene Existenz in Frage. Ihre Gegensätzlichkeit wird jedoch nicht in Fronten konstatiert, sondern in ständigen Verhandlungen von Wissenschaft und Poesie, Technik und Natur…
Fazit von Jörg Petzold:
„Das Buch hat 700 Seiten, obwohl es gar nicht so dick ist. Man nimmt es in die Hand und ist überrascht vom Gewicht. Und genauso überraschend ist, wie viele Geschichten, wie viele Auseinandersetzungen darin stecken. Das ist ein solcher Reichtum, dass es einen fast erschlägt – auf gute Art und Weise erschlägt, großartig! Im Zentrum steht ein Teil der Welt, von dem wir wenig erfahren: Aserbaidschan und die ehemalige Sowjetunion. Mit diesem Buch schaut man von dort auf die Welt und die Fragen der Zeit.“
Der Perser von Alexander Ilitschewski in der Übersetzung von Andreas Tretner ist erschienen bei Suhrkamp.
Die Geschichte meiner Zähne von Valeria Luiselli
Gustavo Sánchez hat eine Mission: Jeder seiner hässlichen Zähne muss ersetzt werden. Glücklicherweise ist er Auktionator – der weltbeste Auktionator – was ihm dabei hilft, Geld für die neuen Zähne zu sammeln. Dabei entdeckt er, dass es entscheidend ist, die Objekte, die er anbietet, mit Geschichten auszustatten. Das steigert ihren Wert immens.
Fazit von Jörg Petzold:
„Ich muss wieder feststellen: ich mag einfach die Mexikanerinnen und Mexikaner und speziell ihren Humor und ihre Literatur wahnsinnig gern! Dieses Buch ist dermaßen schräg, irgendwo zwischen Essay, Satire, Anekdoten und Philosophie. Es macht einfach großen Spaß und hält einige sehr überraschende Einblicke parat!“
Double Negative von Ivan Vladislavic
Der junge Studienabbrecher Neville Lister begleitet den berühmten Fotografen Saul Auerbach einen Tag durch Johannesburg, um eine Lektion fürs Leben zu lernen. Sie spielen ein Spiel: Auf einem Hügel über der Stadt wählen sie drei Häuser und beschließen, auf der Suche nach einer Geschichte und einem Bild an ihre Türen zu klopfen…Nach Jahren in London kehrt Lister, inzwischen selbst Fotograf, in das Südafrika der Post-Apartheid zurück und sucht das dritte Haus, um Auerbachs Arbeit abzuschließen. Johannesburg hat sich fast bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Fazit von Jörg Petzold:
„Sprachlich eines der tollsten Bücher, die ich seit einiger Zeit gelesen habe. Nicht umsonst gibt es ein extra Vorwort zu den fantastischen Metaphern im Buch. Es geht um Südafrika und natürlich um die ganz großen Themen dort, und die werden so einfach und klar und gar nicht moralisierend beschrieben, dass es ganz leicht wird, sich mit ihnen zu beschäftigen – und eine riesengroße Freude ist, das zu lesen.“
Hörproben sind aus rechtlichen Gründen nur 7 Tage zum Nachhören verfügbar.
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Übrigens: Hier findet ihr alle Buch-Empfehlungen, hier die Mitschnitte unserer 3-Minuten-Lesung.
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