Wenn Rockmusik zur schwarzen Messe wird | Magma live in Berlin
Es fällt schwer, möchte man das Phänomen Magma erklären, nicht vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen, während man über die Oberflächlichkeit der Musikindustrie philosophiert – so surreal und widersinnig erscheint die pure Idee hinter der Band um Schlagzeuger und Mastermind Christian Vander in der heutigen Zeit. Schon der Versuch, ihre Musik, die so eigentümlich ist, dass für sie ein eigenes Genre namens Zeuhl erfunden werden musste, zu beschreiben, ist eigentlich zum Scheitern verurteilt. Ein bisschen Prog, ganz viel Jazz, repetitive Bass- und Pianolinien, die aus der Feder von Carl Orff, Igor Strawinsky oder Richard Wagner stammen könnten, dazu Gesang in einer Fantasie-Sprache namens Kobaïanisch, die sich ungefähr zu gleichen Anteilen aus gebrochenem Deutsch, Französisch, den slawischen Sprachen und (gefühlt) Klingonisch zusammensetzt.
Dass Magma nicht einfach nur ein etwas stupider Witz eines gelangweilten Jazz-Virtuosen, eine Randnotiz in Form eines belanglosen, weil nur anderthalb oder zwei Jahre lang existierenden Sideprojects ist, sondern seit Ende der Sechziger ein halbwegs erfolgreiches Projekt, auf das sich KünstlerInnen aus Rock, Metal und Jazz als großen Einfluss berufen, mag eines der größten Mysterien der Musiklandschaft sein.
Und obwohl Magma zumindest live immer präsent waren und auch bis zuletzt, nach einigen eher halbgaren Experimenten mit Funk und Soul in den Achtzigern, hervorragende Alben und EPs mit neuem Material veröffentlichten, ist es am 12. Oktober 2016, dem Termin, an dem die Franzosen im Berlin gastieren, ganze dreißig Jahre her, seit sie zuletzt in der Hauptstadt auf der Bühne standen.
Musikalische Dampfwalze gepaart mit schwarzer Messe
Entsprechend liegt der Fokus an diesem Abend weniger auf neuen Kompositionen, die Magma schon einmal gerne live vorab präsentieren, sondern auf den alten Klassikern des umfangreichen Œuvres der Band. Dennoch wirkt nichts wie ein Abschied, sondern eher wie eine dankbare Zelebrierung der wirklich Eingeweihten. Und obwohl ein Großteil der Zuhörer wohl mit den Platten in den Siebzigern aufgewachsen ist, haben auch einige gar nicht so wenige junge Menschen den Weg ins Kesselhaus gefunden, die, wie Sängerin Stella Vander in der Mitte des Konzerts treffend anmerkt, noch nicht mal geboren waren, als Magma ihren Zenit erlebten.
Grundsätzlich beschreibt Zelebrierung die Stimmung eines Magma-Konzerts hervorragend. Keine beeindruckende Lightshow, keine Videoanimationen, nicht einmal ein Banner mit dem markanten Logo hängt hinter der Bühne; es wird sich also auf das Wesentliche, die Musik, konzentriert. Dennoch verselbstständigt sich die Show erstaunlich flink zum Spektakel und erinnert bereits nach einer Viertelstunde eher an eine schwarze Messe denn an ein gewöhnliches Rockkonzert.Fraglos liegt der Fokus auf Christian Vander, der hinterm Schlagzeug wirkt wie ein Tier. Er rollt mit den Augen, fletscht die Zähne, grunzt und ruft, und legt mit seinem atemberaubend präzisen Spiel gemeinsam mit dem herausragenden Bassisten Philippe Bussonet die Grundlage für diese musikalische Dampfwalze, die geradewegs aus einem alten ägyptischen Grab auf die Hörer zuzurollen scheint. Primal music? Oh ja, definitiv! Eigentlich auch Irrsinn, dass diese Musik zum Progressive Rock zählt, schließlich benötigt sie oft mehrere Minuten, um zum nächsten Akkordwechsel fortzuschreiten. Doch anders ginge auch die hypnotisierende Wirkung verloren.
40 Minuten lange Hits
Zwar klingt bereits Theusz Hamtaahk so außerweltlich – vor allem der Teil, in dem das Gesangsensemble um Hervé Aknin und Isabelle Feuillebois den Titel mantra-artig immer und immer wieder wiederholt -, dass einem fast das Blut in den Adern gefriert. Doch als dann das unverkennbare Intro des „Hits“ Mekanïk Destruktïw Kommandöh ertönt, inklusive des opern-artigen Gesangs von Stella Vander, und schließlich der schleppende Drumbeat einsetzt, musizieren sich Magma endgültig in andere Atmosphären.
In der Mitte verbeugt sich Christian Vander mit einem durch Scat-Gesang vorgetragenen Saxophon-Solo vor seinem musikalischen Idol John Coltrane. Irgendjemand kreischt „Christian, I love you!“. Dann der nächste Taktwechsel. 5/8, 7/8, 4/4 – kümmert’s überhaupt jemanden? Und wenn dann gleichzeitig und absolut (!) synchron Gitarre und Vibraphon solieren, wähnt man sich absolut sprachlos wie in einem Traum.
Was heißt eigentlich „Zugabe“ auf Kobaïanisch?
Zwar werden die beharrlichen Rufe nach dem Bassspektakel von De Futura ignoriert, dennoch bekommt das Konzert mit dem brillanten Zombies, einem Extrakt aus dem seit Mitte der Siebziger bekannten, aber erst 2009 fertiggestellten Longtrack Ëmëhntëhtt-Ré, zum Abschluss einen weiteren Höhepunkt. Es ist das Tüpfelchen auf dem i, das Sahnehäubchen zu den zwei zuvor dargebotenen Teilen der Theusz Hamtaahk-Trilogie.
Trotzdem endet das Konzert nach gut anderthalb Stunden viel zu früh. Minutenlang gibt es Ovationen, nicht enden wollenden Applaus, bis dann schließlich, nach bangen Momenten der Hoffnung, Magma ließen sich noch einmal hinreißen auf die Bühne zurückzukehren, doch das Saallicht aufleuchtet.
Nur äußerst ungern verlässt man den Planeten Kobaïa, in den sich das Kesselhaus während des Konzerts schleichend verwandelt hat, in Richtung des trüben, nasskalten Oktoberabends, der auf dem Planeten Erde auf einen wartet. Und dennoch ist man beseelt, beflügelt – von solcher Kraft, Wucht und Energie. Denn Magma setzen dort an, wo ein Großteil der heutigen Musik bereits aufhört: bei unser aller Vorstellungskraft. Sie sind ein herausragendes Beispiel für die seltsame Kraft grenzenloser Kunst, die ausschließlich ihre eigenen Regeln kennt.
:infoboxfabian: