Marillion – Fuck Everyone And Run | Spätzünder
Es ist überall so, nicht zuletzt bei der Musik: Manchmal braucht man einfach länger. FluxFM Spätzünder beschäftigt sich deshalb mit Alben, die uns erst auf den zweiten Hördurchlauf so richtig ans Herz gewachsen sind. Egal, ob’s um alte Perlen oder aktuelle Beats geht, schließlich kennt auch die Liebe auf der zweiten Rille kein Alter. Diesmal beschäftigen wir uns mit:
Marillion – Fuck Everyone And Run
Wer sich darauf einlassen möchte, mal Prog Rock-Protest zu lauschen, hört einfach hier rein:
Es ist ja immer so die Sache mit Protestalben. Manchmal stimmen die Texte, doch die musikalische Umsetzung lässt zu wünschen übrig, dann wieder ist es anders herum, wenn mit allzu platten Parolen hantiert wird. Darüberhinaus muss natürlich auch die Attitüde der Künstler stimmen, denn wenn sie nicht aufrichtig zu sein scheinen, macht die Übung des musikalischen Protestierens meist wenig Sinn.
Auf Fuck Everyone And Run von Marillion stimmt all das jedoch. Schon allein der Rahmen spricht für sich. In stolzen siebzig Minuten gibt es gerade einmal fünf Songs Mittelfinger-Musik zu hören, die es in sich hat. Thematisch setzt sich das Quintett mit Korruption auseinander, kritisieren die Reichen dieser Welt, singen über Geflüchtete, über Gold und Geld. Wenig verwunderlich, dass kein besonders fröhliches Album herausgekommen ist. Alles klingt schwer, getragen und düster, erst recht nicht zugänglich. Und jede einzelne Silbe der Texte strahlt einen verbitterten Zynismus aus.
Im Kern geht es nämlich um Angst. Es ist kein Zufall, dass das Akronym von Fuck Everyone And Run FEAR lautet. Mit eben dieser durchdachten Konsequenz vertreten Marillion ihre Haltung auch das ganze Album hindurch, was in Zeiten von inhaltsarmer Popmusik ziemlich erfrischend ist. Natürlich stehen die Chancen denkbar schlecht, dass so ein Progressive Rock-Album die Welt verändern könnte, aber diesen Anspruch besitzt die Band auch gar nicht. Lösungen bieten sie von vornherein keine an, dafür allerdings wütende Melancholie zur Lage der Nationen.
Fast nebenbei waren Marillion auch noch so hellseherisch veranlagt, dass sie dem Brexit praktisch vorgriffen. Das 20 Minuten lange The Leavers handelt eigentlich vom Bandleben on the road und entstand eine ganze Weile, bevor das Thema überhaupt politische Relevanz bekam. Jetzt fällt es schwer, den Song mit solch prophetischen Begriffen wie Leavers und Remainers nicht darauf zu beziehen. Musikalisch wählen Marillion dabei den Mittelweg, geben sich stellenweise ruhig und intim, nur um dann in charakterische Bombast-Passagen auszubrechen. Selbst in denen lässt die Isolation allerdings förmlich spüren.
Somit kommt Fuck Everyone And Run genau zur richtigen Zeit, in genau dem richtigen Jahr. Selbst der Titel ist toll gewählt. Marillion, die freundliche Prog Rock-Band aus der Nachbarschaft, flucht!? Das geschah zuletzt 1984 in She Chameleon. Damals auch noch mit anderem Sänger… So lässt sich feststellen, dass F E A R zwar am Ende des Tages lediglich ein Musikalbum ist, die Band um Steve Hogarth in diesem Rahmen jedoch vieles richtig macht. Sie zeigen Haltung in einer Zeit, in der Haltung Mangelware ist und bleiben dabei, wohl zur großen Überraschung derjenigen, die die Band lange nicht mehr auf dem Radar hatten, total zeitgemäß. Trost spenden sie ihren Hörern durch musikalischen Zusammenhalt und genau DAS findet man heutzutage leider viel zu selten.
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